Interview mit Dr. med. Claude Sidler, Arbeitsmediziner zur Herzratenvariabilität und dem evismo StressCheck

Im Interview gibt unser StressCheck-Spezialist, Hausarzt und Arbeitsmediziner Dr. med. Claude Sidler vom Ärzteteam 51 in Brugg Einblick in Stress-Symptome, die Herzratenvariabilität, den Mehrwert einer HRV-Messung und der Stress-Diagnose direkt in der Hausarztpraxis.


Dr. Sidler, wenn Sie persönlich gestresst sind, wie gehen Sie damit um?


Dr. Claude Sidler: Wenn ich gestresst bin, ziehe ich mich zurück. Ich bin von Natur aus eher introvertiert, und in stressigen Zeiten merke ich, dass ich Ruhe brauche. Das bedeutet, dass ich auch mal Termine absage. Ich brauche dann einfach Zeit für mich.


Woran merken Sie, dass Sie gestresst sind? Gibt es spezifische körperliche oder emotionale Signale?


CS: Bei mir zeigt sich Stress durch Kopfschmerzen und Verdauungsprobleme. Ich werde dann auch ungeduldiger und reizbarer, einfach eine kürzere Zündschnur als sonst. Diese Mischung aus körperlichen und emotionalen Signalen ist für mich ein klares Zeichen. Natürlich merkt dies meine Familie genauso (lacht).


Sie sind seit vielen Jahren als Arbeitsmediziner tätig. Glauben Sie, dass Herr und Frau Schweizer tatsächlich gestresster sind als früher, oder ist es eher so, dass das Thema weniger tabuisiert ist und man eher darüber spricht, und Hilfe sucht?


CS: Das ist ein spannender Punkt. Ich denke, beides spielt eine Rolle: Einerseits wird heute mehr über Stress gesprochen und geschrieben, andererseits hat das Thema auch an Akzeptanz gewonnen. Sehr häufig wird auch der Begriff Burnout verwendet. Doch viele sind gar nicht wirklich „ausgebrannt“. Viele sind einfach überfordert oder überlastet. Und gerade mit einer HRV-Messung kann man dies sehr genau unterscheiden und diagnostizieren.


Wie erkennen Sie Stresssymptome bei Ihren Patientinnen und Patienten? Gibt es typische Merkmale oder Beschwerden, die auf Stress hinweisen?


CS: Es gibt Patienten, die direkt sagen, dass sie gestresst sind, überlastet sind oder ein Burnout haben. Dort zeigen sich meist emotionale Symptome: Sie sind traurig, schlafen schlecht oder sind erschöpft. Sie haben meist klassische depressive Symptome. Diese sind einfacher in der Suche nach Belastungen oder Sorgen im Privaten oder Beruflichen. Schwieriger sind diejenigen Patienten, welche mit rein körperlichen Symptomen in die Praxis kommen wie Kopfweh, hoher Blutdruck, Atemnot oder Verdauungsbeschwerden. Diese drängen oft eher auf körperliche Abklärungen. Diese Patienten sind sich des Zusammenhangs mit Stress gar nicht bewusst. Sie kommen vielleicht wegen Magenschmerzen oder chronischen Kopfschmerzen und denken, dass etwas rein Körperliches dahintersteckt, obwohl der Ursprung oft psychisch ist.


Die Herzratenvariabilität (HRV) wird zunehmend als wichtiger Stress-Indikator wahrgenommen. Können Sie uns erklären, was genau die Herzratenvariabilität ist und warum sie so bedeutend ist?


CS: Die HRV ist technisch gesprochen die Variation der R-R Zacken im EKG, die über 24 Stunden aufgezeichnet wird. Der Zustand des vegetativen Nervensystems wird so via «abgreifen» am Herz sichtbar gemacht. Hohe Variabilität bedeutet hohe Regulationsfähigkeit/Anpassungsfähigkeit/Möglichkeit auf Veränderungen und Stress zu reagieren. In der klassischen Schulmedizin fehlen uns die gängigen Begriffe dafür.

Bei einer niedrigen Variabilität muss man mögliche Ursachen, wie z.B. chronischer, negativer Stress, psychiatrische Erkrankungen etc. suchen. Diese Patienten sind u.a. eingeschränkt belastbar, erholen sich schlechter und weisen oft Schlafstörungen auf. Was ich an der HRV besonders schätze, ist ihre Objektivität. Sie bietet einen Einblick in den körperlichen und emotionalen Zustand einer Person über einen längeren Zeitraum.


Mir gefällt die Definition der ’HRV-Päpstin’ Dr. Doris Eller-Berndl. Sie sagt: ‘HRV ist eine semi-quantitative Messmethode.’


Wie und wann sind Sie zum Ersten Mal der Herzratenvariabilität begegnet?


CS: Das war vor ungefähr 15 Jahren oder noch mehr an einem Stresskongress. Dort hat ein Dienstleister Prospekte zum Thema Stress und Burnout messen ausgelegt. Anfangs war ich skeptisch, ob diese Messungen wirklich Aussagekraft haben. Doch mit der Zeit und nach vielen Messungen wurde mir klar, wie zuverlässig und bereichernd die HRV ist. Die HRV hat sich als wertvolles Instrument zur Messung und Diagnose von Stress und Burnout etabliert.

Welche Diagnosen lassen sich anhand der HRV ableiten?


CS: Mit der HRV können wir gut einschätzen, ob jemand tatsächlich ausgebrannt/energielos oder «nur» überlastet ist. Es ist auch hilfreich, um festzustellen, ob jemand seine Stressbelastung realistisch einschätzt. Manche Menschen fühlen sich gestresst und total erschöpft, aber die HRV zeigt, dass sie weit entfernt von einem Burnout sind.  Andere wiederum schätzen sich, ihre Leistungsfähigkeit und Erholungsfähigkeit als toll ein, während die HRV-Messung das Gegenteil zeigt. Die Konfrontation mit divergenten Resultaten ist einer der spannendsten Aspekte der Messungen.

Haben Sie ein Beispiel aus Ihrer Praxis, wo die HRV Hinweise auf ein Burnout geliefert hat?


CS: Ja, grad diese Woche hatte ich wieder mal eine typische «Burnout-Messung», was ja zum Glück selten ist. Dann schlag ich jeweils Alarm und weise auf die Dringlichkeit der Situation hin. Die meisten Patienten sind aber einfach überlastet und ausgelaugt und weisen genügend «Energiereserven» auf. Diese Unterscheidung war mir vor den HRV-Messungen nicht möglich. Ich bin froh, heute präziser diagnostizieren zu können.


Die HRV-Messung mit dem evismo StressCheck zeigt bei Burnout eine stark reduzierte Variabilität. Dies wird im Power-Spektrogramm anhand der ‘Flammen’ sehr anschaulich und intuitiv sichtbar gemacht. Es ermöglicht auch Laien, ihre Messung innert Kürze einzuordnen. Dies gekoppelt mit einem ausführlichen Tagebuch zu den Tätigkeiten vervollständigt das Bild. Diese objektive Bewertung hilft, sowohl für die Diagnose als auch für die Therapieplanung.


Welche Behandlungsempfehlungen geben Sie Burnout-Patienten?


CS: Ein Burnout-Patient braucht eine umfassende Betreuung. Das beginnt oft mit einer Auszeit von der Arbeit, kombiniert mit psychologischer Unterstützung. Als Arbeitsarzt ist mir besonders wichtig, dass der oder die Betroffene versteht, was in den letzten Monaten und Jahren dazu geführt hat, dass sie ausgebrannt sind. Sie müssen verstehen, was sie falsch gemacht haben, wo sie nicht «Nein» und «Stopp» gesagt haben, sich gegen besseres Wissen überarbeitet haben etc. Burnoutfördernde Gedankenmuster und Handlungen sind meist sehr schnell erkennbar, da sie sehr stereotyp sind. Von medikamentöser Seite sind manchmal Antidepressiva oder Schlafmittel notwendig. Dies ist jedoch sehr individuell. Wichtig ist auch, dass die Betroffenen lernen, ihre Ressourcen wieder aufzubauen – sei es durch Stressmanagement-Strategien, regelmässige Bewegung oder gezielte Entspannungsübungen.


Der evismo StressCheck wird als Service in Hausarztpraxen angeboten. Was würden Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen bei der Auswahl der Patientinnen und Patienten empfehlen? Anders gefragt: Für welche medizinischen Fragestellungen ist eine HRV-Messung sinnvoll?


CS: Der evismo StressCheck kann grundsätzlich überall angewendet werden, wo eine psychische Erkrankung oder unklare somatische Beschwerden vorliegen. Ich habe noch nie eine Messung durchgeführt, die «für die Katze» war, weil sie keinen Zusatznutzen brachte. Prädestiniert ist die Messung natürlich bei allen Patienten, welche mit den Worten Erschöpfung, Stress und Burnout in die Praxis kommen. Dann ist es zielführend herauszufinden, wie schlimm ist es wirklich. Die HRV-Messung ist wie Fieber messen. Denn es ist ein Unterschied, ob das Thermometer 37.5 oder 40 Grad anzeigt. Genauso verhält es sich auch mit der HRV. Manchmal kann ich Entwarnung geben, manchmal muss ich Alarm schlagen.


Wie sieht es mit den eingangs diskutierten körperlichen Symptome wie Verdauungsbeschwerden, chronische Kopfschmerzen und so weiter aus?


CS: Ja, auch dort ist eine HRV-Messung sinnvoll und spannend. Gerade für Aussagen zur Erholungsfähigkeit und Schlafstörungen ist der HRV-Messung Gold wert. Insbesondere, da schlafmedizinische Abklärungen sehr aufwändig. Der evismo StressCheck ist einfach, schnell verfügbar und kostet nicht viel.


Machen Sie auch Verlaufskontrollen mit dem evismo StressCheck?


CS: Ja, die Verlaufskontrollen sind etwas vom Wichtigsten überhaupt. Nur so kann geprüft werden, ob die Therapie anschlägt und sich etwas verbessert. Eine Verlaufskontrolle ist aber nur sinnvoll frühestens nach 6 Monaten und auch nur dann, wenn man radikal seinen Lebensstil verändert. Ansonsten ist wohl erst nach 12 Monaten eine Veränderung in der HRV zu erkennen.


Was ist der Unterschied zwischen medizinischer HRV-Messung und Wearables?


CS: Wearables wie Fitnessuhren messen zwar auch die HRV, können aber nicht zwischen positivem und negativem Stress unterscheiden. Es ist wie wenn eine Dimensin fehlt. Der StressCheck von evismo hingegen bietet eine umfassende, medizinisch fundierte Analyse. Er gibt uns einen detaillierten Einblick in den langfristigen Stresszustand des Patienten und erlaubt eine klare Diagnose. Nach einer HRV-Messung kann jedoch die weitere Kontrolle durchaus mit einer Pulsuhr überwacht werden.


Zum Abschluss: Welche Techniken oder Tools empfehlen Sie, um Stress im Alltag aktiv zu reduzieren?


CS: Entspannungstechniken wie Meditation, Yoga und Atemübungen sind sehr wirkungsvoll. Das lässt sich sehr schön an den HRV-Messungen zeigen. Deshalb ist es so wichtig, das Tagebuch sauber auszufüllen. Bei der Auswertung muss ich sehr gute Phasen oder auch sehr schlechte Phasen im Tagesablauf den jeweiligen Tätigkeiten zuordnen können.

Auch regelmässige Bewegung hilft, Stress abzubauen und die HRV zu verbessern. HRV wird übrigens auch im Sportbereich gebraucht, um das Training zu überwachen und Übertraining zu vermeiden. Wichtig ist, dass jeder für sich selbst herausfindet, was am besten funktioniert und vor allem was eingermassen Spass macht. Denn er oder sie sollten es ja regelmässig ausführen, sonst bringt es eh nichts.


Vielen Dank für die spannenden Einblicke Dr. Sidler.



«Der CardioFlex-Sensor ist sehr klein und kaum bemerkbar. Besonders wichtig ist für alle, dass sie damit duschen können.»